Wähle Wandrer Deinen Weg mit Vernunft

Eine Coaching-Geschichte

 
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von
Falk Rodigast

 

In der folgenden Geschichte werden Zielfindung, Zielklärung und Zielstimmigkeit beschrieben. Anwendung findet dieser Prozess in verschiedenen Lebenssituationen.

Jeder Mensch ist die Führungskraft seines eigenen Lebens. Eine regelmäßige Zielprüfung und Neujustierung stellt den Kompass der eigenen Entwicklung ein. Erfahrungsgemäß überdenken Führungskräfte in bestimmten beruflichen Phasen ihre weitere Planung von Karriere und privatem Leben. Berufsanfänger sind sich nicht immer schlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollen.

Der Prozess ist variabel an die jeweilig konkrete Fallsituation anpassungsfähig. Er kann also verkürzt und auch erweitert werden. Im Anschluss ist eine begleitete Zielumsetzung möglich.

Kennenlernen, Sondierung, Zielbeschreibung, Kontrakt

Es war einer dieser warmen Tage im Juli, Sonnabend, kurz vor Mittag. Ich saß im bequemen Rattansessel auf dem Balkon. Der Postbote hatte gerade das Buch von Gerhard Roth gebracht. „Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern.“ Gestern früh erst bestellt, dachte ich bei mir. Dieser Internethändler ist wirklich schnell. Ich nahm das Buch aus dem Umkarton, blätterte darin herum, las das Inhaltsverzeichnis und blieb mit den Augen an einem Kapitel hängen – „Der Vorgesetzte“. Ich schlug die Seite auf und wollte gerade anfangen zu lesen, da klingelt das Telefon.

„Falk Rodigast hier. Guten Tag.“

„Hallo. Bleichert hier, Susanne Bleichert. Bin ich richtig bei Ihnen?“ Die Frauenstimme sprach sehr schnell und klang leicht nervös. „Sie sind Coach, oder?“

„Ja, das bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Ich sprach langsam und betont ruhig.

„Ich brauche jetzt einmal professionelle Beratung. Ich überlege schon lange, mich zu verändern. Also, beruflich natürlich. Privat ist bei mir alles in Ordnung. Und es muss vertraulich bleiben.“

Sie holte Luft und ich setzte wieder ruhig ein. „Es freut mich, dass Sie privat zufrieden sind. Wenn Sie berufliche Dinge besprechen und für sich klären wollen, sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Vertraulichkeit ist die wesentliche Grundlage unserer Arbeit. Wie stellt sich Ihre Situation dar? Welchen konkreten Anlass gibt es für Sie, jetzt professionellen Rat zu holen?“

„Das ist es ja. Gestern hat mich mein Vorgesetzter, der Niederlassungsleiter vor dem Deutschlandchef richtig runter gemacht. Wir hatten Quartalsmeeting. Das läuft über Skype bei uns. Wir sind ein Großhandel für Feinsteinzeug, Fliesen und Keramik. Unsere Zahlen sind derzeit nicht im Plan und ich als Verkaufsleiterin bin hier natürlich in der Pflicht. Das ist auch richtig so. Nur ist eine meiner Mitarbeiterinnen seit sechs Monaten in der Elternzeit und ein weiterer Mitarbeiter schon sehr lange krank. Fast ein ganzes Jahr jetzt. Wir sind hier nur fünf im Vertrieb und die beiden Ausfälle wurden nicht ersetzt. Außerdem wird die aktuelle Kollektion unseres Hauptlieferanten leider im Markt nicht, wie von den Marketingkollegen in der Zentrale hochgerechnet, angenommen. Ich habe mir schon alles Mögliche an Aktionen ausgedacht und wir sind an jedem Kunden dran. Wir haben jeden angesprochen, sogar die, die schon lange nichts mehr oder nur wenig bei uns ordern. Das ist jetzt das dritte Quartal in Folge mit schwierigen Zahlen. Und mein Chef argumentiert gestern so, dass ich noch eine junge Führungskraft bin und wir uns in unserer Region, also Südbrandenburg, Anhalt und Nordsachsen, in einem schwierigen Markt bewegen. Wir sollen jetzt noch einmal alle Kunden ansprechen und neue Aktionen platzieren. Das reicht mir jetzt. Wir machen uns vollkommen unglaubwürdig bei unseren Kunden und auch gegenüber unseren Mitarbeitern.“

„Frau Bleichert, sie sagten, dass Sie schon länger überlegen, wohin Ihre berufliche Reise Sie führen soll. Seit wann tragen Sie diese Gedanken mit sich? Welche Auslöser gab es für Sie?“

„Wissen Sie, ich habe in meiner Firma eine kaufmännische Lehre absolviert, wurde übernommen und bin nach zwei Jahren Innendienst in den Vertrieb gewechselt. Ich wollte immer schon direkt mit Menschen arbeiten und mit ihnen gemeinsam Dinge erreichen. Die ersten drei Jahre waren hart. Ich habe einiges an Lehrgeld gezahlt, bis ich mich als Frau im Markt durchgesetzt hatte, auch in der Firma. Ich habe meinen eigenen Kundenstamm aufgebaut. Einige von ihnen betreue ich immer noch, um nicht den Kontakt zum Basisgeschäft zu verlieren. Ich wollte immer schon etwas erreichen und in eine Führungsposition. Deshalb habe ich ein Abendstudium absolviert – Bachelor Marketing.“ Stolz schwang in ihrer Stimme mit. „Ich war insgesamt neun Jahre im Außendienst und weiß, wie das Geschäft läuft. Dann wurde unser Verkaufsleiter abgeworben und mein alter Chef fragte mich. Ich habe ‚Ja‘ gesagt und bin nun seit vier Jahren Verkaufsleiter in unserer Niederlassung. Dann ging mein alter Chef in Rente und wir bekamen einen neuen. Der hielt nur zwei Jahre durch. Mein jetziger Vorgesetzter ist auch wieder Quereinsteiger. Der war vorher bei einem Automobilzulieferer. Unser Geschäft ändert sich seit einigen Jahren und jetzt nimmt dieser Change an Fahrt auf. Leider wird das in unserer Firma nicht richtig wahrgenommen. Wir versuchen immer noch, mit den alten Methoden weiterzumachen. Unsere Kunden werden nicht mit einem Gesamtkonzept beglückt, sondern mit Rabattaktionen erschlagen. Je schlechter die Zahlen, desto wilder der Aktionismus. Mein direkter Vorgesetzter passt nur auf, dass er nicht aneckt. Er ist Meister im Delegieren und Schönreden.“

„Verstehe ich Sie richtig, dass Sie seit etwa vier Jahren in Überlegungen sind, wie es mit Ihnen beruflich weitergeht? Mit dem Weggang Ihres alten Chefs haben Sie begonnen, sich Gedanken zu machen und die Situation in Ihrer Firma und mit dem jetzigen Vorgesetzten, also gerade in den letzten beiden Jahren, hat Sie darin bestärkt?“

„Ja, so ist es.“

„Danke, dann habe ich das verstanden. Darf ich Ihnen zwei persönliche Fragen stellen?“

„Ja.“

„Wie alt sind Sie und in welcher familiären Situation befinden Sie sich gerade?“

„Das fragt man ein Frau aber nicht.“ Sie lachte. „Ich bin jetzt 36 Jahre alt und lebe glücklich mit meinem Mann und zwei Kindern. Die beiden sind 12 und 13 Jahre alt.“

„Dann haben Sie Ihre Kinder also in Ihrer ‚harten Zeit‘ bekommen, als Sie im Vertrieb begonnen hatten?“

Ruhe am anderen Ende der Leitung. Dann: „Stimmt. Sie haben recht.“

„Frau Bleichert, was sind Ihre Vorstellungen von einem Coaching? Was wünschen Sie sich als Ergebnis?“

„Ich wünsche mir Klarheit über meine persönliche Zukunft. Ich bin unschlüssig, was ich selbst eigentlich möchte. Mit meinem Mann und sehr guten Freunden habe ich schon viele Male darüber gesprochen. Alle zeigen Verständnis für meine Situation und machen mir Mut. Nur Lösungen haben sie keine. Ich gehe langsam auf die 40 zu und denke, dass da noch mehr ist, was ich machen kann. Ich habe schon einiges erreicht, aber zum Beispiel noch nie die Firma gewechselt. Ich denke, das ist jetzt mal dran. Ich kann mir auch vorstellen, etwas ganz anderes zu machen. Aber die Hürden sind vielleicht zu groß. Ich möchte später mal sagen können, dass ich zufrieden bin mit meinem Leben. Das kann ich jetzt noch nicht.“

„Erfahrungsgemäß kann ein kleines, vertrautes Netzwerk Menschen halten und unterstützen. Es ist üblich, dass sich Menschen zunächst mit Vertrauten in ihrer unmittelbaren Umgebung austauschen. Ihre Beobachtung, dass dabei eher Beistand gegeben wird und weniger Lösungen gefunden werden, ist vollkommen natürlich. Das ist so. Als Coach erarbeite ich mit Ihnen gemeinsam Lösungen für Ihre Anliegen. Ich bin für den Prozess und Denkanstöße verantwortlich. Wenn wir an Hürden gelangen, helfe ich Ihnen darüber hinweg. Sie gestalten den Inhalt. Erfahrungsgemäß sind künftige persönliche Entwicklungen eher tragfähig, wenn sie von den Coachees selbst gefunden werden. Die Umsetzung eigener Vorstellungen ist weit mehr von Erfolg gekrönt, als die Übernahme fremder Lösungen von Dritten. Das ist wie mit Fremdkörpern. Gefühlsmäßig nehmen wir eigene Ideen eher an. Und, dass Sie bei allem, was wir gemeinsam erarbeiten, ein gutes Gefühl für sich haben, ist entscheidend für Ihren Erfolg.“

„Das klingt plausibel. Was schlagen Sie vor, wenn Sie das alles von mir hören?“

„Ich habe das Gefühl, dass Sie sich in einer Lebensphase des Umbruchs befinden. Sie haben bisher viele Dinge gemacht und erreicht – Beruf erlernt, Aufstieg im Beruf, Aufstieg in der Firma, eine Familie gegründet, die Kinder schon sehr weit gebracht, vermutlich auch einige materielle Dinge ... Sie haben viel von dem umgesetzt, was Ihnen als Kind und junge Erwachsene immer als erstrebenswerte Ziele erklärt wurden. Im Elternhaus, in der Schule, in der Ausbildung, im ersten Job – da gab es immer wieder Menschen, die Ihnen sagten, was Sie wie machen sollten und was wichtig ist im Leben. Das haben Sie nun geschafft. Jetzt sagt Ihnen das keiner mehr und Sie suchen sich Ihre eigenen Ziele. Erfahrungsgemäß sind Frauen hier wieder mal etwas schneller als die Männer.“

Sie lachte. „Wie meinen Sie das?“

„Diese Phase liegt bei Frauen häufig zwischen 35 und 45 und bei Männern etwa zwischen 40 und 50.“

„Aha. Das werde ich meinem Mann sagen. Was Sie sagen, klingt vernünftig. Das ist wie im Bewerbungsschreiben, wenn man als Grund für den Wechsel angibt ‚Suche nach einer neuen Herausforderung‘.“

„Ich denke, damit haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie haben gesagt, dass Sie sich verschiedene Dinge und Entwicklungen vorstellen können, auch etwas ganz anderes als bisher. Wir könnten gemeinsam Klarheit und Struktur für Ihre Vorstellungen erarbeiten und daran dann Ziele ableiten. Das wäre ein eher langfristiger Zielkorridor von vielleicht zehn Jahren. Dieser wird dann ganz konkret heruntergebrochen auf Ein-Jahres-Ziele und den sogenannten ‚Ersten Schritt‘, also: Was mache ich bis zum Tag X in der kommenden Woche, um das Jahresziel zu erreichen?“

„Das kann ich nachvollziehen. Wie muss ich mir den Ablauf vorstellen?“

„Erfahrungsgemäß ist hier eine Zweiteilung hilfreich. An einem Tag erarbeiten wir Ihre langfristigen Ziele und prüfen diese auf Echtheit. Also, ob Sie diese wirklich erreichen wollen und wie Sie sich dabei fühlen. Das ist ganz wichtig. Wenn Sie sich vorstellen, Sie haben es geschafft, sollten Sie ein wirklich großes und gutes Gefühl in sich verspüren. Dann erarbeiten wir aus den langfristigen Zielen konkretere 1-Jahres-Ziele und den sogenannten ersten Schritt. Haben Sie Hobbies?“

„Ja. Ich laufe gern.“

„Nehmen Sie auch an Wettkämpfen oder ähnlichem teil?“

„Nein. Ich bin nicht im Verein. Maximal Stadtlauf oder Firmenlauf.“

„Das ist gut. Was war für Sie eine richtige Herausforderung beim Laufen? Haben Sie da ein besonderes Ziel erreicht?“

„Ja. Ich bin vor einem Jahr die 20 Kilometer in zwei Stunden gelaufen. Das hatte ich schon lange vor und es war unglaublich. Ich war richtig euphorisch und fühlte mich richtig gut.“

„Sind Sie da mit jemandem zusammen gelaufen?“

„Nein. Ich war allein.“

„Wo sind Sie gelaufen?“

„Im Wald. Bei uns zu Hause.“

„Hören Sie dabei Musik?“

„Nein. Damit könnte ich nicht runterkommen.“

„Wie haben Sie das mitbekommen, dass Sie die 20 Kilometer geschafft hatten?“

„Ich habe eine Laufuhr und schaue da alle paar Kilometer mal drauf. Also, als ich die 20 hatte, war ich noch gar nicht ausgepowert. Da war noch Luft für mehr.“

„Wollen wir ein kleines Experiment wagen und Sie stellen sich noch einmal diesen Moment vor?“

„Können wir machen.“

„Dann bitte ich Sie: Schließen Sie Ihre Augen. Stellen Sie sich die Situation noch einmal vor. Sie laufen durch den Wald, sehen die Bäume und Sträucher, Ihren Weg vor sich, hören die Geräusche um sich herum – Blätter und Äste rascheln, der Wind geht vielleicht leise, vielleicht sind dort Vögel. Sie hören Ihre Schritte beim Laufen. Sie spüren, wie sich Ihr Körper beim Laufen bewegt. Sie können den Wald riechen. Wenn Sie einatmen, spüren Sie die Waldluft. Sie laufen schon eine ganze Weile und es ist Zeit, wieder einmal auf die Uhr zu sehen. Sie schauen auf Ihre Uhr und sehen: 20 Kilometer und die Zeit…“

Ruhe am anderen Ende.

„Was macht das mit Ihnen?“

„Ich bin im Wald. Schaue auf die Uhr. Unglaublich. Ich habe es geschafft!“

„Wie fühlen Sie sich?“

„Glücklich. Ich habe es geschafft.“

„Spüren Sie mal in Ihren Körper hinein. Welche Reaktion fühlen Sie?“

„Es kribbelt überall. Mir ist warm. Das kommt nicht vom Laufen. Ich könnte Bäume ausreißen, habe ganz viel Kraft. Ich bin stark, kann alles schaffen, was ich will.“

„Ein schönes und starkes Gefühl. Kommen Sie bitte in Ihrem Tempo zurück ans Telefon. Wenn Sie da sind, sagen Sie etwas.“

Kurze Pause. „Da bin ich wieder. Das war gut.“

„So in etwa sollten sich Ihre Ziele anfühlen, wenn Sie sich vorstellen, diese erreicht zu haben.“

„OK. Jetzt weiß ich, was Sie meinen.“

„Wenn der erste Tag vorbei ist, schlafen Sie drüber. Am zweiten Tag prüfen wir die Ziele noch einmal kurz. Vielleicht ergeben sich Änderungen. Wir schauen dann, wie sich die Ziele in Ihrem bisherigen Lebenslauf widerspiegeln. Über welche Grundlagen verfügen Sie schon, um sie zu erreichen? Sind Ihre Ziele für Sie realistisch?“

„Wie machen wir das?“

„Wie prüfen das Ganze aus verschiedenen Perspektiven, damit Sie sicher sein können. Wir betrachten eine berufliche Situation aus Ihrer Vergangenheit und schauen, wo Sie jetzt gerade stehen. Gibt es eine Basis, auf der Sie aufbauen können? Zuletzt sehen wir uns Ihre Wertvorstellungen an. Passen Ihre Ziele zu Ihren Werten? Wenn hier eine Übereinstimmung besteht, prüfen wir noch einmal alles kurz ab. Wichtig ist wieder, dass Sie bei allem ein wirklich gutes Gefühl in sich spüren.“

„In Ordnung. Wie lange dauern diese beiden Tage?“

„Erfahrungsgemäß jeder etwa vier Stunden.“

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Zunächst müsste jeder von uns für sich feststellen, ob er mit dem anderen arbeiten möchte. Ich für meinen Teil kann das schon bejahen.“

„Ich für meinen auch. Ich habe eine ganze Weile gegoogelt und bin dann bei Ihnen hängen geblieben. Was Sie auf Ihrer Homepage schreiben, fand ich gut. Deswegen habe ich auch angerufen. Und unser Gespräch jetzt finde ich richtig gut.“

„Wir müssten dann noch organisatorische und formelle Dinge klären. Wann und wo wollen wir arbeiten? Bei Ihnen, bei mir oder an einem anderen Ort?

„Bei mir geht nicht. Ich möchte nicht, dass das jemand mitbekommt und zu Hause kann ich mich nicht konzentrieren. Geht bei Ihnen auch das Wochenende?“

„Ja. Das ginge. Fangen wir mit dem Termin an. Kommenden Samstag und Sonntag hätte ich noch Zeit. Beide Male von 11-15 Uhr?“

„Ja.“

„Wollen Sie nach Leipzig kommen oder wollen wir uns in der Mitte treffen?“

„Wo wäre das denn? In Dessau?“

„Wir könnten uns in Wörlitz treffen und bei schönem Wetter auch im Park arbeiten.“

„Das klingt gut. So machen wir das.“

„Für Samstag benötigen wir einen Raum zur Zielerarbeitung. Das macht sich draußen nicht so gut. Sonntag könnten wir draußen arbeiten. Soll ich das organisieren?“

„Ja, bitte.“

Wir klärten noch formelle Fragen, wie Vertrag und Honorar, und verblieben bis zum kommenden Montag 12 Uhr zur endgültigen telefonischen Abstimmung zum Ort. Am Nachmittag sandte ich ihr den Vertrag mit der Zielbeschreibung unserer Arbeit und den zugehörigen Anlagen per Mail zur Ansicht.

Vorbereitung

Ich habe dann am Nachmittag in Wörlitz in einem kleinen Hotel angerufen und die Verfügbarkeit eines Besprechungsraumes für das kommende Wochenende zu den gewünschten Zeiten geklärt. Es war ein Raum von ca. 20m2 vorhanden. Ich habe ihn für Samstag gebucht und für Sonntag wetterabhängig reserviert. Inkludiert waren eine Flipchart mit Zubehör, eine Pinwand und Tagungsgetränke.

Am Montag rief ich 12 Uhr bei Frau Bleichert an. Sie war sehr erfreut, dass alles klappen würde. Wir stimmten uns kurz zum Ort ab. Sie hatte noch eine Frage zum Vertrag, die wir schnell klären konnten. Dann bat ich sie, für ihre Vorbereitung zum Samstag einige kleine Hausaufgaben zu erledigen.

„Hausaufgaben? Das ist ja wie in der Schule. Ich weiß nicht, ob ich das zeitlich schaffe.“

„Es sind nur Kleinigkeiten. Und wie in der Schule sind sie eine Vorbereitung auf das, was dann kommt. In Ihrem Fall Ihr Coaching. Wenn Sie das erst vor Ort machen, verlieren wir wertvolle Zeit. Es geht darum, dass Sie über sich selbst ein wenig nachdenken. Das kann ich Ihnen leider nicht abnehmen. Ich bin ja nicht Sie.“ Sie lachte leise. „Das ist schon alles. Und es ist ganz wichtig. Damit bereiten Sie sich auf unsere Arbeit vor. Wir können dann gleich beginnen.“

„OK. Worum geht es denn?“

„Ich maile Ihnen das hinterher noch zu. Sie müssen also jetzt nicht mitschreiben. In Ordnung?“

„Ja.“

„Überlegen Sie bitte:

  • 10 Dinge, die Sie mit anstrengungsloser Konzentration, mit Leichtigkeit getan haben. Dinge, bei denen Sie im Flow waren.

  • 10 Ziele, die Sie geschafft haben

  • 5 Dinge, an denen Sie noch arbeiten und besser werden wollen

  • 5 Dinge, die eine hervorragende Arbeitsatmosphäre schaffen

  • No-Go’s in der gemeinsamen Arbeit

  • 10 Momente des Glücks in Ihrem Leben.

Die bisherige Arbeit zeigt, dass ein Notieren auf kleinen Karten für die Coachees hilfreich sein kann.

Ganz wichtig dabei ist, nicht krampfhaft zu denken. Nehmen Sie die Dinge, die Ihnen leicht einfallen. Erfahrungsgemäß sind die wichtigen Situationen und Dinge in ihrem Leben den Menschen präsent.

Abschließend noch eine Bitte: Machen Sie sich Gedanken über Ziele, die Sie sich für die kommenden Jahre vornehmen könnten. Im besten Falle: Wo bin ich in 10 Jahren? Gehen Sie dafür in sich. Schauen Sie um sich. Überlegen Sie, wer Sie sein wollen. Schlafen Sie darüber. Hier nichts notieren. Denken Sie einfach über sich nach. Wichtig: Bitte denken Sie nur über sich selbst nach. Das hier ist Ihre Ego-Nummer.“

„Gut. Das sollte ich hinbekommen.“ Pause. Leiser: „Das hat mich noch nie jemand gefragt.“

„Ich sende Ihnen die Aufgaben als ‚Erinner-mich‘ auch noch per Mail und bestätige kurz Ort und Zeit unserer Arbeit.“

„In Ordnung. Also bis Samstag dann.“

Gleich danach sandte ich die besprochene Mail ab.

Tag 1 – Samstag

Ich war gegen 10:40 Uhr im Hotel und wurde in unseren Raum geführt. Es war alles zu meiner Zufriedenheit vorbereitet. Frau Bleichert traf kurz darauf ein und wir konnten beginnen.

Nach einer kurzen Begrüßung gingen wir draußen spazieren.

Exkurs:

Sofern es möglich ist, arbeite ich gern in einer Umgebung, die nicht der täglich gewohnten Arbeits- /Lebensumgebung der Coachees entspricht. Wenn jemand in einer Büroumgebung seinen beruflichen Alltag verbringt, kann eine vergleichbare Umgebung bei der Arbeit am künftigen Selbst eher die eingefahrenen alltäglichen Denkmuster befruchten. Ich glaube, dass man Dinge nur ändern kann, wenn man andere Wege beschreitet, als bisher. Ein ungewohntes, aber angenehmes Setting kann das Coaching sehr hilfreich unterstützen. Eine freiere Arbeitsatmosphäre erlaubt freieres Denken.

Für Aufträge wie Berufsorientierung/Karriereberatung/Zielbestimmung mit zum Teil längeren Sitzungen bietet sich ein Settingwechsel zwischen Praxisraum und freier Natur sehr gut an.

Der Wörlitzer Park, eingebettet in die Elbauenlandschaft, ist dafür nach meiner Einschätzung und Erfahrung aus mehreren Gründen hervorragend geeignet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angelegt, geben alle Elemente der Anlage (Architektur, Plastiken, Zitate, Flora und Fauna, Wasserläufe und Seen, Hügel und Wälle) Denkanstöße zur Auseinandersetzung mit der Natur, Philosophie, Kunst, Literatur und Geschichte. Alle Sinne werden dabei angesprochen. Ganz im Geist der Aufklärung wird der Mensch gefördert und gefordert, sich mit sich selbst und seinem Platz in der Welt auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt steht der Einzelne. Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? In dieser temporären Abkehr vom Hier und Jetzt, außerhalb der täglichen Lebenswelt, wird größeres Denken in weiteren Zusammenhängen – Aufklärung für das eigene Ich – möglich.

Wir gingen vom Schloss am Englischen Landsitz vorbei in Richtung Insel Stein. An der Synagoge bogen wir ab – zurück zum Hotel. Während des Spaziergangs unterhielten wir uns. Ich stellte verschiedene Fragen.

„Wie geht es Ihnen heute und hier?“

„Was beschäftigt Sie heute?

„Als Sie über heute nachgedacht haben, in Ihrer Vorbereitung, was erschien Ihnen besonders wichtig?“

Wir besprachen noch, was Ziele sind und wie sie formuliert werden sollten. Frau Bleichert kannte die SMART-Formel, auch aus eigener Anwendung. Ich bestätigte, dass das eine sehr gute Basis ist und ergänzte, dass wir nach endgültiger Zielfindung noch einen Ökocheck durchführen werden. Dadurch wird das Ergebnis nochmals aus einer weiteren Perspektive abgesichert.

Nach knapp 30 Minuten waren wir zurück in unserem Tagungsraum und setzten die Arbeit fort.

„Jetzt wird es ein wenig formell. Bitte schreiben Sie Ihre Ziele auf und gehen Sie dabei nach einem bestimmten Muster vor.“

„Gut. Was soll ich machen?“

„Wir haben vereinbart, dass Sie langfristig Ihre Ziele definieren wollen. Etwa in einem 10-Jahres-Zeitraum.“

„Ja.“

„Das entspricht eher einem Zielkorridor. Niemand kann auf das Komma genau vorhersagen, was in 10 Jahren ganz konkret geschehen sein wird. Also sind das eher größere Bereiche, die definiert werden.“

„Haben Sie ein Beispiel?“

„Ja. Die Erfahrung in bisherigen Coachings zeigt, dass Menschen zum Beispiel ihre berufliche Zusammenarbeit definieren. Arbeite ich eher selbstständig oder als Angestellter? Arbeite ich eher in einer großen Firma oder in einer regional ansässigen. Auch als Selbstständige. Wer sollen meine Auftraggeber sein – Konzerne oder kleine Unternehmen? Arbeite ich in einem größeren Team oder eher in einem kleinen? Arbeite ich in einer Firmenverwaltung oder eher in einer Niederlassung?“

„Verstehe ich.“

„Weitere Bereiche können das Einkommen sein und die Arbeit selbst. Was mache ich inhaltlich?“

„Ja.“

„Damit die Zielfindung die Ganzheitlichkeit des Einzelnen abbildet, arbeiten wir nach der Methode des Indian Wheel.“

„Davon habe ich noch nichts gehört.“

Ich erklärte die Methode des Indian Wheel zur Zielfindung. Bei dieser Vorgehensweise werden vier Perspektiven des Individuums abgebildet – die visuelle, die materielle, die emotionale und die spirituelle.

„Bitte finden Sie für jede Perspektive etwa 20 Ziele.“

„Wie bitte.“ Entrüstung in der Stimme. „Höchstens fünf, also vielleicht zehn.“

„Es sollten circa 20 sein. Wenn es 17 sind ist es auch in Ordnung, oder 21. 20 ist eine Zahl, vor der die meisten erst einmal kurz zurückschrecken. Sie werden selbst sehen, dass es realistisch ist.“

„Da bin ich gespannt.“

„Sie schaffen es. Die letzten Tage haben Sie sich doch schon mit sich beschäftigt und über sich nachgedacht.“

„Dafür also die Hausaufgaben.“

„Genau. Das war die Vorbereitung für heute. Wenn Sie jetzt Ihre Ziele auf die Flipchart schreiben, dann schreiben Sie alle auf, die Ihnen in den Sinn kommen. Es kann sein, dass Sie gern jeden Tag zu Hause frühstücken wollen vor der Arbeit oder immer einen Tag frei haben wollen unter der Woche. Erfahrungsgemäß bewegen sich die ersten fünf bis zehn Ziele in diesem Bereich. Und wenn Sie so über sich nachdenken, kommen Ihnen die wichtigen Ziele wie von selbst. Das sind dann ‚die großen Brocken‘. Und um die geht es. Sie arbeiten sich Stück für Stück vor. Bitte denken Sie daran: Ziele, die Sie am 01.08.2028 erreicht haben wollen.“

„Da muss ich wirklich tief nachdenken.“

„Wichtig dabei ist Ihre Körperhaltung. Wenn Sie sich zusammenkrümmen, kommen Ihnen auch nur krumme Gedanken. Machen Sie sich groß und öffnen Sie sich für Ihre Ideen. Gerade die vagen und nur schemenhaft vorhandenen Gedanken kommen dann zu Ihnen. Stellen Sie sich gerade hin, Kopf hoch, vielleicht ein wenig nach rechts oben schauend und fangen Sie an. Es soll helfen, beim Denken die Augen zu schließen. Dann schreiben Sie einfach auf, was Ihnen einfällt.“

Ich machte die Körperhaltung vor und Frau Bleichert spiegelte mich.

„So etwa?“

„Ja. Und wie vereinbart, ist alles, was hier geschieht und besprochen wird, absolut vertraulich. Das ist Grundlage unserer Arbeit.“

„Das haben wir vereinbart.“

„Formulieren Sie bitte positiv, also: Was möchte ich? Nicht, was Sie nicht möchten.“

„Mache ich.“

Frau Bleichert benötigte etwa 70 Minuten für die vier Perspektiven und hatte dann ihre Ziele auf vier Flipcharts notiert. 17 visuelle, 20 materielle, 21 emotionale und 18 spirituelle Ziele. Das hatte sie richtig gut gemacht.

Nach einer kurzen Pause von vielleicht 5 Minuten arbeiteten wir weiter.

„Im nächsten Schritt werden Sie jetzt diese Ziele bewerten. Jedes Flipchart einzeln. Sie fühlen sich in jedes Ziel einzeln kurz ein. So wie wir es mit Ihrem 20 km-Lauf gemacht haben. Sie wissen noch?“

„Ja natürlich. So als ob ich es gerade erlebe.“

„Genau. Sie lesen sich das Ziel durch und fühlen in sich hinein. Was macht das mit mir? Habe ich ein gutes Gefühl? Haken dran. Habe ich ein ungutes Gefühl? Durchstreichen. Habe ich gar kein Gefühl? Auch durchstreichen.“

Sie war nach etwa 35 Minuten fertig damit. Es blieben 11 visuelle, 8 materielle, 14 emotionale und 7 spirituelle Ziele stehen.

„Im nächsten Schritt hören Sie in sich hinein. Nur bei den verbliebenen Zielen. Wenn sich Ihre innere Stimme meldet, schreiben Sie auf, was sie zu Ihnen sagt. Schreiben Sie genau das neben das Ziel auf die Flipchart.“

„Was mache ich, wenn meine Stimme nichts sagt?“

„Dann schreiben Sie zu diesem Ziel nichts auf und machen mit dem nächsten weiter.“

Nach weiteren 30 Minuten war auch diese Etappe geschafft.

„Zuletzt gleichen Sie jetzt die Ziele miteinander ab. Sie rechnen sie also gegeneinander auf. Was ist wichtiger? Das machen Sie für jedes verbliebene Ziel einzeln auf jeder Flipchart. Sie vergleichen jedes Ziel mit jedem anderen, das erste mit dem zweiten, dann das erste mit dem dritten und so weiter. Das Ziel, was im Vergleich wichtiger ist, bekommt einen Zählstrich.“

Nach 25 Minuten war auch diese Arbeit beendet.

Wir machten wieder eine kurze Pause.

Jetzt wurden die Ziele je Flipchart mit den meisten Strichen betrachtet. Visuell waren zwei besonders häufig mit einem Strich versehen, materiell eines, emotional ebenfalls zwei und spirituell wieder eines.

„Frau Bleichert, das haben Sie richtig gut gemacht. Schauen Sie bitte einmal, welche Gemeinsamkeiten Sie bei diesen verbliebenen Zielen entdecken können. Vielleicht ergänzen sich auch einige.“

„Ja, da ist mir auch schon etwas aufgefallen. Im Endeffekt kann ich das eine visuelle mit dem materiellen und einem emotionalen verbinden. Das zweite visuelle bleibt für sich stehen. Und das verbliebene emotionale und spirituelle sind wie zwei Seiten der gleichen Medaille.“

„Formulieren Sie bitte diese drei Ziele. Vielleicht vollenden Sie einfach den folgenden Satz: Am 01. August 2028…“

Sie tat es und schrieb die drei herausgearbeiteten 10-Jahres-Ziele auf ein neues Flipchart.

„Klasse. Da sind wir heute richtig weit vorangekommen. Lassen Sie uns prüfen, ob die Zielformulierung zu Ihnen passt. Beginnen wir mit der SMART-Formel, die Sie ja schon kennen.“

Frau Bleichert begann. „Spezifisch, messbar, aktionsorientiert, realistisch und terminiert.“

Wir gingen jeden Punkt einzeln durch und sie formulierte an den Zielen jeweils noch etwas um.

„Lassen Sie uns jetzt diese Ziele herunterbrechen auf Ein-Jahres-Ziele. Was müssten Sie in einem Jahr, also am 01. August 2019, jeweils erreicht haben? Woran würden Sie erkennen, dass Sie auf dem Weg zum Großen und Ganzen vorankommen?“

Sie überlegte kurz und formulierte dann jeweils ein erstes Etappenziel für ihre drei großen Ziele. Auch hier prüften wir SMART. Sie schrieb auch diese Ein-Jahres-Ziele auf ein Flipchart.

„Ich hatte heute eingangs beim Spazierengehen kurz erwähnt, dass wir noch einen Ökocheck Ihrer gefundenen Ziele durchführen werden.“

„Ja, stimmt.“

„Das machen wir jetzt. Bereit?“

„Ja.“

„Stellen Sie sich bitte gleich einmal vor, es ist der 01. August 2028 und Sie haben Ihre Ziele erreicht. Ich lese Ihnen den Zielsatz vor. Wenn Sie dann eine Situation vor Augen haben, fühlen Sie in diese und in sich hinein. Was das mit Ihnen macht. Wie es sich anfühlt. OK?“

„Ja.“

„Wir machen das für jeden Satz einzeln.“

„Gut.“

„Schließen Sie bitte die Augen. Stellen Sie sich vor, es ist der …“

Wir machten das für jedes Ziel einzeln. Als Frau Bleichert richtig „in ihrer Zielsituation“ war, stellte ich kurze Fragen. „Wie geht es Ihnen? Was macht das mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?“ Ich bat sie, das, was sie spürt, genau zu beschreiben. Sie hatte immer ein Bild vor Augen, hörte auch leise Geräusche dazu und fühlte sich körperlich sehr wohl. Als sie dann richtig tief in ihrem guten Gefühl war, bat ich sie, dieses Bild, das Gefühl und das Geräusch dazu wie auf einem Video zu konservieren und in sich abzuspeichern. So, dass sie es wiederfindet. Das machte sie.

Bei allen drei Zielen war das Ergebnis für sie ausgesprochen positiv und angenehm.

Dann bat ich sie, eine Linie zu legen mit drei Zeitpunkten: Heute – 01. August 2019 – 01. August 2028. Ich habe immer einige Materialien dabei und Frau Bleichert nahm ein kurzes Seil und Karten.

Sie legte die Linie und markierte die drei Punkte mit kleinen Karten.

„Jetzt gehen Sie bitte gleich langsam mit geschlossenen Augen an dieser Zeitlinie entlang. Ich werde Ihnen das Ein-Jahresziel vorlesen, wenn Sie an dem Punkt sind. Fühlen Sie dann bitte, was das mit Ihnen macht. Gehen Sie dann weiter. Wenn Sie am 10-Jahres-Punkt sind, lese ich Ihnen das Ziel vor. Fühlen Sie bitte in sich hinein. Was macht das mit Ihnen?“

Das machten wir wieder mit allen drei Zielen. Das Ergebnis war immer das gleiche – sehr positiv.

„Frau Bleichert, abschließend noch drei kurze Fragen zu Ihren drei großen Zielen.“

„Sind wir dann fertig für heute?“

„Ja.“

„Das reicht mir dann auch. Es ist ganz schön anstrengend, über sich nachzudenken. Vor allem, wenn man es nicht gewohnt ist.“

„Da haben Sie vollkommen Recht. Unsere vier Stunden sind auch in zehn Minuten vorbei. Also fast geschafft.“

„Dann los.“

„Wenn Sie das Ziel … erreichen. Was gewinnen Sie? Was bleibt gleich? Was geben Sie her?“

Ich stellte die Fragen einzeln für jedes der drei Ziele. Sie antwortete.

„Was könnte der erste kleine Schritt sein auf Ihrem Weg zur Erreichung der drei Ziele? Was können Sie bis nächsten Dienstag gemacht haben?“

Sie lächelte. „Ich werde bis Dienstag …“

„Gut. Dann sind wir durch für heute. Wollen wir noch einen Kaffee zum Abschluss trinken?“

„Ja.“

„Ich habe dann nur noch eine Formalie.“ Wir unterzeichneten den Coachingvertrag und ich gab ihr ein Exemplar.

Ich räumte noch schnell im Raum auf. Die vier Flipcharts mit den vielen Zielen wollte Frau Bleichert gleich mitnehmen. Ebenso die beiden mit den 10-Jahres- und Ein-Jahres-Zielen.

„Die beiden letzten benötigen wir morgen vielleicht noch. Können Sie diese bitte noch einmal mitbringen?“

„Ja, natürlich.“

Dann gingen wir in das kleine Café des Hotels. Beim Vorbeigehen an der Kuchentheke fiel mir Baumkuchen auf. Ich schaute genauer hin und es war wirklich echter Salzwedeler vom Backhaus Hennig.

„Davon werde ich mir wohl etwas bestellen müssen. Ich mag den mit dunklem Schokoladenüberzug am liebsten.“

„Dann nehme ich etwas von dem mit heller Schokolade. Baumkuchen habe ich schon immer gemocht.“

Wir aßen den Kuchen, tranken unseren Kaffee und unterhielten uns über verschiedene Dinge.

Plötzlich musste sie schmunzeln. Ich fragte nach und sie meinte: „Das mit dem Kuchen ist wie unsere Arbeit heute. Schicht für Schicht geht es voran.“

„Das ist eine schöne Metapher.“

Zum Abschied sagte ich, dass sie nicht mehr intensiv über unseren Tag nachdenken, sondern einfach drüber schlafen solle. Morgen arbeiten wir dann in Ruhe weiter.

Tag 2 – Sonntag

An diesem Tag war das Wetter schon um 10 Uhr warm und sonnig. Ideal für die Arbeit draußen.

Ich rief Frau Bleichert an, dass sie heute direkt zum Hauptparkplatz fahren solle. Einfach der Ausschilderung „P“ UNESCO-Welterbe folgen. Ich würde sie dort abholen.

Wir begrüßten uns kurz.

Dann besprachen wir den Ablauf heute.

„Ist es in Ordnung für Sie, wenn wir heute draußen arbeiten?“

„Ja. Es ist traumhaftes Wetter heute. Viel zu schade, um drin zu arbeiten. Ich bin gespannt, was wir heute machen.“

„Heute möchte ich mit Ihnen in den verborgenen Tälern arbeiten.“

„Jetzt bin ich aber neugierig.“

Wir gingen durch den Palmengarten bis zum Floratempel, bogen links ab und dann über die Kettenbrücke in Richtung Venustempel. Dort befindet sich unterhalb des Tempels die Romantische Partie. Das sind vier kleine, von oben gar nicht oder nur sehr schwer einsehbare Täler, die durch kurze Gänge verbunden sind. Die Gänge sind so abgewinkelt, dass man ihr Ende nicht sofort sieht. Jedes Tal ist vielleicht vier Meter tief, knapp zehn Meter lang und misst an der breitesten Stelle etwa fünf Meter.

Auf dem Weg dahin fragte ich wieder Verschiedenes und wir unterhielten uns.

„Wie fühlen Sie sich heute? Was wollen Sie von gestern noch besprechen oder klären? Was bringen Sie mit, das Einfluss auf unsere Arbeit heute haben könnte?“

Als wir ankamen, sagte Frau Bleichert: „Ich war zwar schon ein paar Mal in Wörlitz, aber hier noch nie. Mein letzter Besuch ist auch schon eine ganze Weile her. Da waren die Kinder noch sehr klein.“

Ich bat sie, sich auf den Platz einzulassen. „Kommen Sie hier an. Sehen Sie um sich herum. Riechen Sie die Nadelbäume. Hören Sie die Geräusche, die der Wind verursacht, das Rascheln in den Büschen. Spüren Sie den Boden.“

Ich stellte meinen Rucksack mit den verschiedenen Materialien auf den Boden an die Seite. Darin waren auch mehrere Halbliterflaschen Wasser für uns.

„Wollen wir hier arbeiten? Ist das in Ordnung für Sie?“

„Ja. Das passt. Alles gut.“

„Dann beginnen wir noch einmal mit den großen Zielen. Haben Sie das Flipchart mitgebracht?“

Sie breitete das Papier aus.

„Bitte lesen Sie sich die Ziele nacheinander vor. Rufen Sie dann einzeln jedes Video dazu ab. Fühlen Sie in sich hinein. Wie geht es Ihnen dabei?“

Im Ergebnis war es wie gestern. Wir konnten also weiterarbeiten.

„Das ist jetzt das Tal der Zukunft. Lassen Sie uns ins Tal Ihrer Vergangenheit gehen.“

Wir gingen durch ein weiteres Tal hindurch in das dritte.

Angekommen ließ ich sie wieder den Platz erspüren. Ich legte einen Beutel mit verschiedenen Seilen vor uns hin.

„Bitte legen Sie Ihre Lebenslinie aus. Von heute bis rückwirkend zum ersten Erlebnis, an das Sie sich erinnern. Im Zweifel Ihre Geburt.“

„Wie? Meine Linie? Keine Ahnung, wie die aussieht.“

„Erspüren Sie diese Linie, bitte. Sie legen einen Punkt fest. Hier in diesem Raum, auf dem Boden. Und das ist heute. Dann überlegen Sie, wo ihre Vergangenheit liegt. Von diesem Punkt ausgehend.“

Sie legte „Heute“ aus.

„Wenn Sie jetzt überlegen: Ich habe gestern geduscht. Wo ist das?“

„Na hier etwa.“ Sie legte das Seil und eine kleine Karte darauf.

„Ich habe vor einem Monat geduscht.“ Wo ist das?

„Hier.“

„Ich habe vor einem Jahr …“

„Hören Sie auf! Ich bade nur. Mein Mann flippt immer aus. Das ist da.“

Sie legte ihre Badelinie bis zu ihrer Geburt aus.

„Jetzt denken Sie bitte genau nach. Was ist eine wirklich richtig gute berufliche Erfahrung aus dieser ganzen vergangenen Zeit? The best of? Beruflich kann auch in der Ausbildung oder Schule sein.“

„Nun. Was ist wirklich gut?“

„Etwas, das Sie jeden Tag wieder haben wollen. So eine Art von Rausch. Kennen Sie den Begriff ‚Flow‘?“

„Das sagt mir etwas. Damit kann ich etwas anfangen. Ich habe da auch eine Geschichte. Ist ein paar Tage her.“

„Das ist gut. Gehen Sie da bitte auf Ihrer Lebenslinie hin.“

„Das ist hier so.“

„Gut. Was ist das für eine Situation?“

„Wie bitte?“

„Wollen Sie darüber reden?“

„Nein.“ Pause. „Also, nein. Ganz bestimmt nicht.“

Kurze Verwirrung bei uns beiden. Neue Situation.

„Das ist in Ordnung so. Auch gut.“

„Wie kann das für Sie in Ordnung sein? Sie müssen doch wissen, was passiert.“

„Das muss nicht sein. Ich arbeite auch inhaltsneutral. Wissen Sie noch? Sie bestimmen den Inhalt und ich den Prozess. Das funktioniert gerade jetzt richtig gut.“

„Aha. Wenn Sie meinen.“

„Gehe ich recht in der Annahme, dass in dieser ganz konkreten Situation Sie beteiligt sind?“

„Ja.“

„Und daneben noch weitere Personen aus Ihrem eher direkten Umfeld?“

„Ja.“

„Wie viele?“

„Also zwei weitere.“

„Und diese ganz konkrete berufliche Situation fand in einem Zusammenhang zwischen all diesen Menschen statt?“

„Ja.“

„Lassen Sie uns mit dem triadischen Modell weiter arbeiten. Aller guten Dinge sind schließlich drei.“

„Na, dann mal los.“

Ich legte mit einem sehr langen Seil eine Triade aus.

„Ich, Wir, Es. Das sind die Inhalte der drei Schleifen, die Sie hier sehen. Gehen Sie bitte nacheinander durch diese drei Felder und spüren Sie die Situation nach. ‚Ich‘ bedeutet Sie als Person mit Ihrer Biografie, Ihrem Denken und Fühlen. ‚Wir‘ ist Ihre berufliche Funktion in Ihrer Gruppe/Ihrem Team, also Ihre Rolle und die Erwartung der anderen an Sie. ‚Es‘ sind die übergeordneten Werte, die hier wirken. Man könnte es auch Compliance nennen. Wie sind Sie Teil der Organisation, des Großen und Ganzen?“

„Verstehe ich. Und ich bleibe jetzt die ganze Zeit in dieser einen Situation?“

„Ja. Es geht jetzt darum, dass Sie diese sehr gute Situation Ihrer Vergangenheit wieder intensiv erleben. Ich werde vielleicht ein paar Fragen stellen. Diese beantworten Sie bitte nur für sich im Stillen.“

„Gut.“

Frau Bleichert ging nacheinander durch die drei Felder der Triade, vom Ich zum Wir und dann zum Es. Sie fühlte diese Situation nach und spürte sich. Aus ihrer eigenen Perspektive, der Sicht von beteiligten Anderen und einer übergeordneten Position – das Ganze betrachtend. Ich stellte verschiedene kurze Fragen als Denkanregung. Sie antwortete still für sich.

Als wir das beendet hatten, fragte ich sie, was das mit ihr macht und wie sie sich insgesamt fühlt.

Sie meinte: „Das war sehr intensiv. Die Situation ist mir jetzt wieder aus verschiedenen Blickwinkeln bewusst. Es fühlt sich sehr gut an.“

„Das ist jetzt das Tal der Vergangenheit. Lassen Sie uns ins Tal Ihrer Gegenwart gehen.“

Wir gingen zurück in das mittlere Tal.

Angekommen ließ ich sie auch diesen Platz erspüren.

„So, was machen wir jetzt?“ fragte sie.

„Jetzt verbinden wir Ihre Vergangenheit und Ihre Zukunft im Heute. Bitte nehmen Sie sich sechs Karten aus dem Rucksack oder Sie schauen sich hier einfach mal um.“

An einer Seite des kleinen Tals lagen viele Tannenzapfen, die von den Bäumen oberhalb heruntergefallen waren. Frau Bleichert suchte sich sechs Zapfen aus.

„Gut. Legen Sie diese Zapfen bitte wie einen geraden Pfad vor sich aus. So, dass Sie mit geschlossenen Augen immer einen Schritt zwischen ihnen machen können.“

Sie legte die Tannenzapfen in eine Richtung aus.

„Sie haben gerade eine wirklich gute berufliche Situation aus Ihrer Vergangenheit erfahren. Auch in Ihrer Zukunft haben Sie mehrere sehr angenehme Zielsituationen erlebt. Stellen Sie sich bitte vor, dass Sie auch in Ihrer Gegenwart eine richtig gute berufliche Situation erleben. Wo wäre das? Was würde da geschehen? Wer wäre anwesend?“ Ich machte eine Pause.

Frau Bleichert überlegte. „Muss das real sein?“

„Es sollte stattfinden können, wenn die Umstände es zulassen.“

„Ich habe da eine Idee.“

„Wollen Sie darüber sprechen?“

„Ja, das ist recht einfach. Ich habe eine neue Mitarbeiterin eingestellt und sie hat einen Kundenstamm bekommen. Jetzt fahre ich mit ihr gemeinsam beim ersten Mal zu ihren Kunden. Stelle sie also vor. Wir besprechen offen, wie sich die Geschäftsbeziehung künftig entwickeln sollte, damit eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten entsteht.“

„Das klingt richtig gut. Denken Sie eher an einen bestimmten Kunden oder…?“

„Nein. Das ist die Situation an sich.“

„In Ordnung. Ich werde Sie jetzt mit einigen Fragen durch diese Situation führen. Hin und wieder werde ich Sie bitten, einen Schritt vorwärts zu gehen. Zum Schluss drehen wir den Weg um und Sie kommen wieder zurück zum ersten Zapfen. Wollen wir beginnen?“

„Ja.“

Ich führte Frau Bleichert durch die sechs logischen Ebenen nach Dilts.

  • Umwelt: Wo sind Sie? Wann ist das? Wer ist anwesend?

  • Verhalten: Was machen Sie? Was geschieht? Was ist von außen beobachtbar?

  • Fähigkeiten: Wie machen Sie das, was Sie tun? Wie bekommen Sie das hin? Was können Sie?

  • Glaubenssätze und Werte: Was ist Ihnen wichtig dabei? Woran glauben Sie, wenn Sie das machen?

  • Identität: Wer sind Sie selbst dabei?

  • Zugehörigkeit: Wovon Sind Sie Teil? Zu welchem Ganzen gehören Sie?

Auf der Stufe Zugehörigkeit, bat ich sie, sich einen zusammenfassenden Satz zu überlegen und ein Symbol dafür zu finden.

Das machte sie.

Dann führte ich sie wieder zurück – von Zugehörigkeit bis in die Umwelt. Ich stellte die gleichen Fragen.

Zwei Dinge waren auf dem Rückweg anders. Das Symbol veränderte von Stufe zu Stufe sein Aussehen und Frau Bleichert sprach kaum noch von „ich“, sondern nutzte deutlich mehr ein „wir“.

Als sie wieder beim ersten Zapfen angekommen war, machten wir eine kurze Pause.

„Wie geht es Ihnen jetzt?“

„Ich habe jetzt etwas über mich erfahren, was ich so noch nicht wusste. Ich habe da ein bestimmtes Gefühl, dass mir besonders wichtig erscheint. Ich weiß aber nicht genau, was es ist. Ich muss nicht im Mittelpunkt stehen. Ich muss auch nicht alles wissen, was meine Mitarbeiter machen. Der Rahmen muss stimmen. Mmh…“

„Wenn Sie diesem Gefühl nachspüren, was könnte es sein?

  • Freiheit – ‚Vielleicht.‘

  • Sicherheit – ‚Eher nicht. Dachte ich bisher immer.‘

  • Anerkennung – ‚Nein.‘

  • Macht – ‚Auch nicht. Nein.‘

  • Harmonie – ‚Bestimmt nicht.‘

  • Intensität – ‚Nein.‘

  • Glaubwürdigkeit – ‚Ja. Ich denke, das könnte es sein.‘

  • Fürsorge – ‚Nur bedingt.‘

  • Neugier – ‚Das nicht.‘

Sie haben bei Freiheit und Glaubwürdigkeit zustimmend reagiert.“

„Ja.“

„Haben Sie eine Präferenz zwischen beiden Werten?“

„Beschreiben Sie bitte diese beiden Werte etwas näher.“

Das tat ich und Frau Bleichert war sich schnell sicher, dass ihre Präferenz bei Glaubwürdigkeit oder, anders ausgedrückt, Integrität liegt.

Wir machten wieder eine kurze Pause.

„Frau Bleichert, jetzt sind wir für heute fast am Ende unserer Arbeit angekommen. Zum Abschluss bitte ich Sie, noch einmal Ihre Lebenslinie auszulegen. Bitte markieren Sie darauf den Punkt Ihrer Situation aus dem Tal der Vergangenheit, die Situation von eben aus dem Heute und Ihre Zielsituationen am 01. August 2028.“

Das machte sie.

„Bitte gehen Sie jetzt gleich von der Vergangenheit über das Heute in Ihr Morgen. Spüren Sie dabei in sich. Was geschieht mit mir? Was fühle ich? Am Zielpunkt lese ich Ihnen Ihre Ziele vor. Einzeln. Spüren Sie dann noch einmal ganz genau nach, was das mit Ihnen macht. In Ordnung?“

„Ja.“

Ich führte sie durch. Das Ergebnis bei allen drei Zielen für 2028 war ein richtig gutes, warmes und entspanntes Gefühl im Körper. Voller ruhiger Energie, mit einem leichten wohligen Kribbeln auf der Haut.

Als sie in 2028 war, bat ich sie, sich in dieser Zukunft umzudrehen. „Schauen Sie einmal zurück, was Sie alles geschafft haben. Sie sehen da Ihre letzten Jahre, was Sie gemacht haben. Weiter zurück. Da ist etwa 2018. Vielleicht sehen Sie sich da in einem Coaching irgendwo in einem Park im Wald.“

Leise. „Ja.“

„Schauen Sie weiter. Vielleicht sehen Sie da noch etwas. Gute berufliche Situationen, die da irgendwo sind. Sehen Sie sich das kurz an.“ Pause. „Gehen Sie wieder zurück auf Ihrer Entwicklung in Ihr aktuelles Jahr 2028.“ Pause. „Schauen Sie da noch einmal kurz um sich.“ Pause. „Nehmen Sie wahr, was ist, wie es ist. Spüren Sie es.“ Pause. „Kommen Sie dann in Ihrem Tempo zurück hierher, in die Gegenwart, Park, Wörlitz, kleines Tal, Tannenzapfen.“

Es dauerte kurz und Frau Bleichert machte die Augen wieder auf.

„Schauen Sie sich bitte um, wo Sie sind. Sehen Sie bitte, wo Ihre Tannenzapfen auf dem Boden liegen. Zählen Sie bitte mal kurz durch.“

„Sechs. Alle da.“ Sie lächelte.

„Sind Sie wieder hier?“

„Ja.“ Pause. „Das ist aber schon anders hier.“

„Wie geht es Ihnen?“

„Gut. Richtig gut. Total entspannt.“

„Was ist mit Ihren großen Zielen?“

„Ich hatte sie eben geschafft. Also, das war ein klasse Gefühl. Ich habe das richtig gesehen.“

„Als Sie da zurückgesehen haben. Von 2028 aus. Was haben Sie da gesehen und gefühlt?“

„Irgendwie hatte ich da schon alles. Früher. Da war eigentlich alles schon da, was ich brauchte. Ich habe es nur nicht gesehen.“

„Und jetzt?“

„Das wird alles. Es geht gar nicht anders. Ich muss nur noch anfangen.“

Längeres Schweigen.

„Jetzt haben wir Ihre Zielbestimmung abgeschlossen.“

„Ja. Ich habe das Gefühl, wirklich von vielen Seiten auf meine Entwicklung geschaut zu haben. Mir ist klar, was ich künftig will und auch, wie ich es erreichen kann. Ich fühle, dass das gut wird. Mir geht es auch richtig gut. Vielen Dank.“

„Gern. Mir hat die gemeinsame Arbeit Freude gemacht. Dafür danke ich Ihnen.“

Frau Bleichert überlegte kurz. „Was ist eigentlich mit dem vierten Tal? Was arbeiten wir dort noch?“

„Nichts. Wir gehen einfach durch. Schließlich müssen wir hier auch wieder herauskommen.“

Sie lachte.

Dann räumten wir unsere Sachen zusammen - Frau Bleichert ihre Flipcharts und ich meine Materialien und die leeren Wasserflaschen.

Wir gingen zurück. Über die Hohe Brücke und die Weiße Brücke zum Gotischen Haus. Die Gondeln fuhren unter uns vom Kleinen Walloch über den Wolfskanal zum Wörlitzer See. Kein Laut dabei.

„Weshalb gehen wir jetzt hier entlang? Ist das nicht ein Umweg?“ fragte sie.

„Nicht unbedingt.“ erwiderte ich. „Wir haben sehr intensiv zwei Tage miteinander gearbeitet. Ich denke, dass es auch eines angemessenen Rahmens dafür bedarf. Wir können alles langsam ausklingen lassen und kommen zurück ins Tagesgeschäft. Und jeder von uns kann jetzt vielleicht überlegen, was wichtig ist und bei ihm als nächstes kommt. Wohin führt mein Pfad die nächsten Tage? Unsere gemeinsame Arbeit hat bei Ihnen etwas bewirkt. Eine Entwicklung in Gang gesetzt. Und ich wachse an Erfahrung und Wissen mit jedem Coaching. Dabei habe ich eins gelernt: Der direkte Weg zum Ziel ist nicht immer die kürzeste Verbindung.“

Wir gingen schweigend weiter. Durch den Baumgarten über die Wolfsbrücke zur Roseninselfähre. Mit der Fähre auf die kleine Insel – Duft und Farbe. Die nächste Fähre. Alle handbetrieben. Neumarks Garten – Wald und Hügel. Wir gingen weiter.

„So scheint es ja auch bei mir zu sein.“ sprach sie plötzlich. „Wenn ich mir das alles überlege…“ Pause, dann weiter. „Wenn ich darüber nachdenke, dann …“, wieder kurze Pause, „na ja, also ich habe immer irgendetwas gemacht. Das war eben so. Das hat sich wie von selbst ergeben. Schule – Abi – Ausbildung – erster Job – Studium.“ Kurze Pause. „Das ging Schlag auf Schlag.“ Wieder Pause. „Zwischendurch Familie, erst Mann, dann Kinder, Haus. Als ob ich irgendetwas Fremdes abarbeite. Und dann hatte ich das alles und stand da.“ Längere Pause. „Dann habe ich angefangen, wirklich über mich selbst nachzudenken. Und bin nun bei Ihnen gelandet.“ Sie schaute zu mir herüber. „Und es ist gut so.“

Mir fiel nicht nur ein Stein vom Herzen. Bin ja auch nicht aus Holz geschnitzt.

Wir kamen zum Labyrinth.

„Wollen wir hinein?“

„Mmh…“

„Gehen Sie ruhig vor. Trauen Sie sich.“

Sie ging. Alles dunkel. Kein Weg erkennbar. Biegung rechts, Biegung links. Und wir waren heraus.

„Schauen Sie einmal zurück.“

Sie tat es und las: „Wähle Wandrer Deinen Weg mit Vernunft.“

Das Zitat steht über dem Ausgang aus dem kurzen Labyrinth.

„Das werde ich ab jetzt tun. Vielen Dank dafür.“

Wir gingen durch das Elysium zum Eisenhart und nutzten die Querungssteine über den Bach. Das Wasser stand wegen der Trockenheit gerade nicht hoch. Glück gehabt. In meiner Kindheit ging das schon mal wirklich schief.

„Ach, da sind wir ja schon.“ Sie sah bereits den Parkplatz. Wir besprachen kurz das künftige Miteinander.

Sie sagte zum Abschied: „Das war klasse hier. Ich konnte mich ganz auf mich konzentrieren. Keine Ablenkung und nichts, was mich an den Alltag erinnert. Vielen Dank.“

Auf dem Weg nach Hause fiel mir Gerhard Roth wieder ein. Vorgesetzte. Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit und vorbildliches Verhalten sind nach seiner Ansicht Attribuierungen für Menschen, die gut andere Menschen führen können. Diese Meinung kann ich gut und gern teilen. Ich spreche eher von Führungskräften. Allein dem Worte nach. Ein Vorgesetzter wurde vor andere gesetzt. Eine Führungskraft führt andere Menschen mit eigener Kraft. Klingt schon besser, oder?

Nachfolgetermin

Wir hatten für vier Wochen später einen Telefontermin verabredet. Per Mail stimmten wir uns zur genauen Zeit ab. Das Telefonat dauerte etwa eine Stunde.

Wir besprachen zuerst, ob sich Dinge verändert hatten in ihrer Zielvorstellung. Dem war nicht so. Gab es Situationen und Entwicklungen, die zu einer Neujustierung Anlass gaben? Ebenfalls nicht.

Dann bat ich Frau Bleichert, über ihre Umsetzung zu berichten. Was hatte sie inzwischen unternommen? Waren die im Coaching definierten ersten Schritte erfolgreich? Wie ging es ihr dabei? Welche Resonanz gab es von Dritten? Was machte das mit ihr?

Sie hatte diese Schritte erledigt und sich selbst bereits neue, „zweite“, Schritte gesetzt. Auch diese waren bereits eingeschlagen.

Es gab also keinen weiteren Handlungsbedarf im Rahmen dieses Prozesses.

Zum Abschluss des Gesprächs wollte Frau Bleichert noch etwas wissen.

„Sagen Sie mal, ich habe da eine Frage.“

„Ja.“

„Führen Sie eigentlich alle Ihre Klienten durch den Wörlitzer Park?“

„Nein“ konnte ich antworten. „Ich interessiere mich für Kultur, Geschichte und einiges mehr und finde da bislang immer eine passende Verbindung zu meinen Klienten. Das können Orte sein, Bauwerke, Reiseziele, Filme, der Zoo, Fußball, aktuell der Naumburger Dom, Oper und Theater, letzten Monat der Wörlitzer Park und letzten Winter Aschenputtel in Moritzburg.“

„Das ist angenehm anders bei Ihnen.“

Weitere Termine

Wir haben weitere Termine vereinbart. In jedem geraden Monat des Jahres am ersten Mittwoch zwischen 11 und 13 Uhr. Telefonisch oder persönlich. Wir werden sehen.

Im Zweifel: im Wörlitzer Park. Dann vielleicht im Gasthof „Zum Eichenkranz“. Schinkel, Novalis, Hölderlin, Goethe und andere können ja so falsch nicht gelegen haben …

Exkurs:

Eine Erweiterung des Prozesses ist durch die Nutzung wissenschaftlich fundierter Tests möglich. Im beschriebenen Zusammenhang bieten sich verschiedene berufsbezogene Verfahren an, wie zum Beispiel VVKI Verkaufs- und Vertriebs-Kompetenz-Inventar, LEAD-Führungsfeedback, MALAMUT Profiler zur Erfassung von Unternehmerpotenzial/sozialen Kompetenzen und Teamrollenverhalten, BIP Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung, LSA Leadership Style Assessment.

Das vorliegende Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, zur Gänze oder in Auszügen, ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Namen und Zusammenhänge mit Geschehnissen und Orten in dieser Geschichte sind frei erfunden. Sofern Übereinstimmungen mit realen Personen und Abläufen vorhanden sein sollten, wären diese rein zufälliger Natur.